Kein Platz für Verschwörungstheorien: Der Stammbaum des Coronavirus enthüllt, woher es kommt

Donald Trump nennt es das chinesische Virus. Im Gegenzug versucht China, den Verdacht auf andere Länder zu lenken. Was stimmt? Die Veränderungen im Genom des Virus verraten es.

Christian Speicher
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Auch wenn Gerüchte anderes besagen: Mit grösster Wahrscheinlichkeit sprang das neue Coronavirus in der chinesischen Metropole Wuhan vom Tier auf den Menschen über.

Auch wenn Gerüchte anderes besagen: Mit grösster Wahrscheinlichkeit sprang das neue Coronavirus in der chinesischen Metropole Wuhan vom Tier auf den Menschen über.

Getty

In den letzten Wochen sind wir Zeugen geworden, wie schnell sich das neue Coronavirus um den Erdball ausgebreitet hat. Noch schneller als das Virus verbreiten sich allerdings Falschmeldungen. Ein beliebtes Sujet von Verschwörungstheorien ist die Frage, wo und wann die Corona-Pandemie ihren Anfang nahm. Mal heisst es, das Virus sei nicht vom Tier auf den Menschen übergesprungen, sondern aus einem chinesischen Sicherheitslabor entwichen, in dem an Coronaviren geforscht worden sei. Ein anderes Mal suggerieren chinesische Regierungsstellen, die Lungenkrankheit Covid-19 sei bereits im Herbst letzten Jahres in den USA ausgebrochen und von dort nach China verschleppt worden. Jetzt macht ein neues Gerücht die Runde. Demnach soll das neue Coronavirus bereits im November in Norditalien sein Unwesen getrieben haben.

In die Welt gesetzt hat dieses Gerücht der italienische Mediziner Giuseppe Remuzzi vom Mario-Negri-Institut für pharmazeutische Forschung. Gegenüber italienischen und amerikanischen Medien sagte er, italienische Ärzte hätten bei älteren Menschen in der Lombardei bereits im November und im Dezember Fälle einer schweren und ungewöhnlichen Lungenentzündung diagnostiziert. Den Beweis für den angedeuteten Zusammenhang mit dem Sars-CoV-2-Erreger blieb Remuzzi zwar schuldig. Trotzdem verbreitet sich das Gerücht in Windeseile – vor allem dank sozialen Netzwerken in China.

Mutationen als Schlüssel

Falschmeldungen in die Welt zu setzen, ist ziemlich leicht. Sie wissenschaftlich zu widerlegen, kann dagegen ganz schön mühsam sein. Dennoch ist es möglich. So können Forscher inzwischen ein recht gutes Bild davon zeichnen, wo das neue Coronavirus zuerst aufgetreten ist und wie es seinen Siegeszug um die Welt angetreten hat. Der Schlüssel dazu sind Genomanalysen.

Jedes Mal, wenn sich ein Virus in seiner Wirtszelle vermehrt, kann es beim Kopieren der Erbinformation zu winzigen Fehlern kommen. Auf die Eigenschaften des Virus, etwa seine Aggressivität, haben diese Mutationen in der Regel keinen Einfluss. Mit der Zeit sammeln sich aber immer mehr Mutationen im Genom an. Vergleicht man nun die Gensequenzen von Virenproben, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten genommen wurden, so lässt sich anhand der Mutationen eine Art Stammbaum des Erregers erstellen. Das erlaubt es, die Verwandtschaftsverhältnisse zumindest in groben Zügen zu rekonstruieren.

Um in Echtzeit mitverfolgen zu können, wie sich Krankheitserreger ausbreiten, haben Richard Neher vom Biozentrum Basel und sein Kollege Trevor Bedford vom Fred-Hutchinson-Krebsforschungszentrum in Seattle schon vor einigen Jahren die Web-Applikation Nextstrain entwickelt. Die Corona-Krise hat der App grossen Zulauf beschert.

Die Ausbreitungswege des Sars-CoV-2-Erregers sind verschlungen. Von China aus breitete er sich um den ganzen Erdball aus. Die Farben stehen für verschiedene geografische Regionen (Asien, Europa, Nordamerika usw.) Hier klicken, um auf der Website nextstrain.org die globale Verbreitung im Zeitraffer abzuspielen.

Die Ausbreitungswege des Sars-CoV-2-Erregers sind verschlungen. Von China aus breitete er sich um den ganzen Erdball aus. Die Farben stehen für verschiedene geografische Regionen (Asien, Europa, Nordamerika usw.) Hier klicken, um auf der Website nextstrain.org die globale Verbreitung im Zeitraffer abzuspielen.

Screenshot Nextstrain

Zu den Anwendern gehört auch Tanja Stadler von der ETH Zürich in Basel. Sie hat den genetischen Stammbaum des Sars-CoV-2-Erregers mit einem statistischen Modell analysiert und kommt zu dem Schluss, dass die Epidemie vermutlich bereits in der ersten Novemberhälfte in China ausgebrochen ist. Demnach hätte sich das Virus über mehrere Wochen hinweg unbemerkt in China ausgebreitet, bevor Ende Dezember die ersten Berichte über Patienten mit einer schweren Lungenentzündung auftauchten.

Nichts deutet darauf hin, dass das Virus zu diesem Zeitpunkt bereits in Italien Fuss gefasst hatte. Vielmehr zeigen die Analysen von Neher und seiner Mitarbeiterin Emma Hodcroft, dass das Virus erst im Januar nach Italien eingeschleppt wurde. Vermutlich geschah das auf zwei verschiedenen Wegen, einmal über Norditalien und einmal über die Region Rom. Die schweren Lungenentzündungen, die im November und im Dezember in Italien diagnostiziert wurden, müssen also auf einen anderen Erreger zurückzuführen sein.

Auch Experten können sich irren

Die genomischen Daten sind zwar ein wichtiger Leitfaden, um die Ausbreitung der Corona-Pandemie zu rekonstruieren. Doch mitunter tun sich auch Fachleute schwer damit, die Verwandtschaftsverhältnisse richtig zu interpretieren. So hatte Bedford vor einigen Wochen die Hypothese aufgestellt, das neue Coronavirus sei nicht von China, sondern von Bayern nach Italien eingeschleppt worden. Er stützte sich dabei auf die Ähnlichkeit von zwei Virussequenzen. Die eine stammte von einem Patienten, der sich in Italien angesteckt hatte, die andere von einem der 14 Patienten, die Ende Januar in München unter Quarantäne gestanden hatten. Beide wiesen drei Mutationen gegenüber den Virussequenzen aus China auf.

Andere Forscher, darunter der Virologe Christian Drosten von der Charité in Berlin, hatten allerdings eine andere Erklärung für die genetische Ähnlichkeit der beiden Sequenzen. Demnach wäre es auch möglich, dass das mutierte Virus auf unabhängigen Wegen von China nach Italien und nach Bayern gelangte. Bedford entschuldigte sich später für seine voreiligen Schlüsse.

Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist allerdings noch nicht gesprochen. In einer jüngst erschienen Publikation argumentieren auch Forscher der Cambridge University, dass die Ansteckungen in Italien auf den Münchner Fall zurückzuführen seien.

Um einem anderen Missverständnis vorzubeugen: Die Viren, die heute in Europa zirkulieren, weisen zwar genetische Veränderungen gegenüber den ursprünglichen Viren aus China auf. Daraus dürfe man aber nicht den Schluss ziehen, dass die wenigen Mutationen das Virus gefährlicher gemacht hätten, sagt Stadler. Die hohe Sterblichkeit in Italien habe sehr wahrscheinlich andere Gründe. Stadler verweist auf die Ähnlichkeit der italienischen und der anderen europäischen Virussequenzen. Wäre die hohe Sterblichkeit in Italien auf eine Mutation zurückzuführen, so Stadler, müsste auch in vielen anderen europäischen Ländern die Sterblichkeit erhöht sein. Das sei aber nicht der Fall.

Und was ist mit dem Gerücht, Sars-CoV-2 sei aus einem chinesischen Sicherheitslabor entwichen? Auch das ist inzwischen widerlegt. In der Fachzeitschrift «Nature Medicine» zeigten Forscher kürzlich anhand von genetischen Analysen, dass das Virus wahrscheinlich kein Laborkonstrukt ist und nicht mit Absicht genetisch modifiziert wurde. Anderenfalls müsste es viel mehr Ähnlichkeit mit bekannten Coronaviren haben. Die Untersuchung stützt die Hypothese, wonach sich das neue Coronavirus in Fledermäusen entwickelt hat und dann – möglicherweise über einen Zwischenwirt – auf den Menschen übergesprungen ist.

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